Glücksmomente überall

Rheinpfalz, Ausgabe vom 07. Oktober 2023, von Holger Pöschl.

Die Beschäftigung mit einer ganz besonderen Liste durchzieht fast die ganze Biografie der Protagonistin in Duncan Macmillans Stück „All das Schöne“, mit dem Anja Kleinhans am Donnerstag in ihrem Freinsheimer „Theader“ Premiere feierte. Letztlich geht es dabei um nicht weniger als die Frage, was das Leben eigentlich lebenswertmacht.

Nr. 1: Eiscreme, Nr. 2: mit der Freundin draußen spielen, Nr. 3: abends länger aufbleiben und fernsehen, Nr. 4: die Farbe Rot – mit ihrer Liste mit schönen Dingen und Tätigkeiten beginnt die namenlose Solo-Darstellerin in „All das Schöne“ als Siebenjährige, und dementsprechend kindlich nimmt sie sich anfangs aus. Doch der Anlass ist bitterernst: Die Mutter hat gerade einen Selbstmordversuch hinter sich, und die Tochter hofft, dass sie wieder Lebensmut fasst, wenn sie liest, was da alles an kleinen Alltagsfreuden zusammengetragen wurde. Als die Mutter nach einigen Tagen aus dem Krankenhaus zurückkommt, ist die Aufzählung schon acht Seiten lang und 314 Nummern stark. Doch die erhoffte Wirkung bleibt aus: So leicht lässt sich die Depression nicht besiegen. Zehn Jahre später, nach dem zweiten Suizidversuch, macht die junge Frau daher da weiter, wo sie als Mädchen aufgehört hat – 315: der Geruch von alten Büchern, 316: Andy García, 317: die Star-Trek-Filme mit ungeraden Nummern, 319: mit Freunden in die Disco gehen …

Das lebenslange Trauma der Tochter

Und auch in ihrem weiteren Lebensverlauf – längst fern des Elternhauses – fällt ihr die Zettelsammlung immer wieder in die Hände, wird immer weiter fortgeschrieben, auch von anderen, zum Beispiel der großen Liebe, die unverhofft in einem verliehenen Buch darauf stößt, und so entwickelt sich die Liste auch zum Dokument ihres Lebens. 9999: die ganze Nacht durchtanzen, 10.000: spät mit jemandem aufwachen, den man liebt …

Von all dem erzählt Anja Kleinhans in einem Monolog und bezieht in ihrer Inszenierung, die sie mit ihrem Hausregisseur Uli Hoch entwickelt hat, immer wieder das Publikum mit ein. Schon vor Beginn sind Zettel ausgegeben worden, auf denen sich ausgewählte Punkte aufgelistet finden – auf Zuruf lesen die dichtgedrängten Zuschauer in dem kleinen „Theader“ die entsprechenden Beiträge vor, was mal besser, mal schlechter klappt. Aber sie bekommen auch Rollen zugewiesen – die des Tierarztes zum Beispiel, der den altersschwachen Hund einschläfert (für das Mädchen die erste Begegnung mit dem Tod), des schweigsamen Vaters, der nicht viel mehr über die Lippen bringt als „Deine Mutter hat was Dummes gemacht“, aber später sogar eine Hochzeitsrede improvisieren darf, oder die der Schulpsychologin Frau Hempel, die mit ihrem Sockenhund Flocki zu dem traumatisierten Kind durchzudringen sucht. Die betreffende Zuschauerin zieht dafür sogar ihren Schuh aus.

Gustav Mahlers Cousine vierten Grades

Das erwähnte Trauma ist im Grunde das eigentliche Thema des Stücks. Denn während die Mutter seltsam fremd und rätselhaft bleibt mit ihrer emotionalen Achterbahnfahrt, wird die seelische Entwicklung der Tochter (die nach Duncan Macmillans Vorgabe aber durchaus auch ein Sohn sein könnte) mit alle ihren Verletzungen sehr anschaulich – natürlich nicht unmaßgeblich auch durch das intensive Spiel von Anja Kleinhans. Während ihres Studiums etwa arbeitet sie sich an Goethes Selbstmord-Roman „Die Leiden des jungen Werther“ ab. Später zerbricht ihre Ehe daran, dass sie ihre Angst, selbst so zu enden wie die Mutter, nicht in den Griff bekommt. Währenddessen wächst die Liste immer mehr der Million entgegen, wobei es gar nicht mehr so einfach ist, noch Originelles zu finden – Nr. 826.979 etwa heißt: „die Tatsache, dass Beyoncé die Cousine vierten Grades von Gustav Mahler ist“.

Das Beispiel verdeutlicht, dass auch leiser Humor diesem Stück nicht fremd ist. Gänzlich unsentimental, wie in manchen Beschreibungen behauptet, ist es jedoch nicht. Einige Male wird es vielleicht doch eine Nuance zu gefühlig – aber das liegt im Auge und Temperament des Betrachters und kann bei dem Thema auch nicht wirklich überraschen.

Zu den „schönen Dingen“, die Einzug auf die Liste finden, gehört im übrigen ganz entschieden auch die Musik. Schon der Vater zieht sich gerne in sein Arbeitszimmer zurück und legt Platten auf, wobei die Tochter bereits an den Titeln erkennen kann, ob eine Störung erlaubt ist oder nicht. Auch für sie selbst spielen vor allem die Klassiker der Rock- und Popgeschichte eine große Rolle, und so werden während des ganzen Stücks immer wieder über Bluetooth Titel von einem Grammophon mit integriertem CD- Player eingespielt – und zum Schluss bei Nr. 1.000.000 der Liste darf es dann sogar echtes Vinyl sein.

TERMINE

Weitere Aufführungen von „All das Schöne“ gibt es am 7., 8., 18., 19. und 20. Oktober, am15., 16., 17. und 29. November und am 1. und 2. Dezember jeweils um 19 Uhr im „Theader“ im Casinoturm an der mittelalterlichen Stadtmauer in Freinsheim. Karten (20 Euro) unter .

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