Rheinpfalz, Ausgabe vom 27. März 2023, von Sigrid Ladwig.
Der wuchernde Dschungel im Hintergrund der Bühne steht wie ein Bild für die Liebe: undurchdringlich, wild, voll von rankenden, schlingenden Gewächsen. Davor zwei Menschen, die sich zueinander tasten und zurückweichen, die reden, schweigen, lachen und trauern. Eindrucksvoll ist „Das weiße Dorf“, eine Inszenierung des Theader Freinsheim mit dem Mannheimer Theater Oliv.
Schon in den ersten Momenten spüren die Zuschauer im Casinoturm: Hier begegnen sich ein Mann und eine Frau im tiefen Widerspruch zwischen Nähe und Distanz. Sie scheinen heftig verliebt. Gleichzeitig sind sie mit Hochdruck bemüht, sich immer wieder hinter Erfolg, Ansehen und Geltung zu verschanzen. Nicht allein mit dem Gesagten, auch mit ihrer starken Körpersprache zeigen Anja Kleinhans als Ruth und Boris Ben Siegel als Jean den Zwiespalt, in welchem sie einander begegnen.
„Das weiße Dorf“, ein Kammerspiel der Dramatikerin Teresa Dopler, handelt von zwei Menschen, die einst ein Paar waren, bevor ihre berufliche Karriere sie auf getrennte Wege führte. Nun treffen sie sich zufällig auf einer Amazonas-Kreuzfahrt wieder. Wie sie einander näherkommen und wieder voneinander wegstreben, wie sie sich anschauen und die Blicke wieder abwenden – allein damit führt das Bühnenduo dem Publikum den paradoxen Magnetismus von Liebesbeziehungen vor Augen.
Im Aufführungsraum des Freinsheimer Stadtmauerturms erlebt das Publikum mit dem Zwei-Personen-Stück eine Koproduktion des Theaders und des Mannheimer Theaters Oliv. Unter der bewährten Regie von Uli Hoch wird das Stück der österreichischen Autorin entschieden gebündelt. Während sich die Handlung bei Teresa Dobler über mehrere Tage erstreckt, verdichtet Hochs Strichfassung das Zusammensein auf den kurzen Abschnitt eines einzigen Tages.
Das intensiviert die Spannung des unverhofften Beisammenseins, die schlingernden Gefühle zwischen Leichtigkeit und Schwerem, das Wechseln zwischen glatter Fassade und schmerzlichen Empfindungen. Einerseits erhält der Zuschauer Einblicke in die wohlkalkulierten Lebensabläufe von Ruth und Jean. Sowohl im Berufsleben als auch in ihren neuen Beziehungen ist ihnen offenbar alles vollkommen geglückt. Andererseits öffnen sich bei näherem Hinsehen Risse in diesen glänzenden Vorzeigewelten. Nicht allein, dass die beiden mit immer neuen Fragen aufeinander eindringen. Ihre Erkundigungen reichen vom intimen Aushorchen bis zu beharrlich-kindlichen Fragespielchen wie „Würdest du mir nachspringen?“
Besonders intensiv aber wirken die Augenblicke, in denen das Erinnern und Nachsinnen das Paar einholen. Dabei gelingt es sowohl Anja Kleinhans als auch ihrem Spielpartner Boris Ben Siegel, ehrliche Trauer um das Verlorene greifbar auszudrücken. Im Zusammenspiel schaffen sie anrührende Bühnenmomente und lassen die Magie liebevoller Nähe spüren.
Klar und bestimmt verläuft das originale Bühnenstück: Es lässt das Paar nach der Flusskreuzfahrt wieder auseinander gehen. Dagegen bringt die Regie von Uli Hoch den Stoff viel stärker ins Fahrwasser von Sehnsucht und Hoffnung. „Dann bleiben wir noch.“ Mit diesen Worten treffen Ruth und Jean irgendwann eine Entscheidung.
In einer Szene sieht man sie zwar eng nebeneinander, aber jeder hat sich auf seiner Liege in eine Decke gehüllt. Sie erinnern dabei an Wesen, die in Kokons gewickelt sind, in Hüllen also, die schützen und zugleich Raum geben für eine einschneidende Entwicklung.
Dass der Zuschauer sich für diese Entwicklung eigene Variablen erdenken kann, ist dem bedachtsamen Vorgehen der Regie zu verdanken. Unaufdringlich regt sie zum Mitgestalten an. Und ohne sich auf eine Möglichkeit festzulegen, lässt die Inszenierung den Zuschauer auch ein wenig hoffen.
Die Kreuzfahrt auf dem Amazonas wird zu einer Reise ins Unbekannte. Das Paar hält sich an der Reling fest und scheint doch ins Leere zu greifen. Es umarmt einander und bleibt doch unentschieden. Jeder sehnt sich zum anderen und meint dennoch, diese Liebe im weiteren Lebenskalkül wieder zu vergessen. Mit diesem ungewissen Ausgang bleibt das weiße Dorf ein rätselhafter Sehnsuchtsort, unfassbar und in weiter Ferne.
TERMINE
Da alle angesetzten Aufführungen ausverkauft sind, gibt es mehrere Zusatzvorstellungen im Freinsheimer Casinoturm, und zwar am 23. April um 17 Uhr sowie am 4. und 5. Mai um 19.30 Uhr. Kartenreservierung (bitte mit Telefonnummer) per E-Mail an . Die Premiere im Mannheimer Theater Oliv ist am 14. April, weitere Vorstellungen sind am 15. und 20. April. Beginn ist jeweils um 19.30 Uhr. Karten gibt es unter www.theater-oliv.de.