Rheinpfalz, Ausgabe vom 28. Juli 2022, von Sigrid Ladwig.
Der Genuss göttlicher Werke gehört dazu, wenn es um Hildegard von Bingen geht: Leben und Wirken einer facettenreichen Frau zeigt die diesjährige Freilicht-Inszenierung des Theader Freinsheim mit dem Stück „Grünkraft – reloaded!“ von Anja Kleinhans. Am Dienstag erlebte ein begeistertes Publikum die Premiere.
Ihr Leben ist ein Weg stetiger Selbstbehauptung. Wie klug Hildegard von Bingen handelte und taktierte, wie methodisch sie als Klostergründerin Verbindungen nutzte und Weichen stellte, das zeigt das Theader-Sommerstück auf eindrucksvolle Weise. „Grünkraft – reloaded!“, geschrieben und gespielt von Anja Kleinhans, wird von der Stadt Freinsheim veranstaltet und im Rahmen des Kultursommers Rheinland-Pfalz vom Land sowie vom Bezirksverband Pfalz gefördert.
An der mittelalterlichen Stadtmauer neben dem Casinoturm kann die gelehrte Klosterfrau ihre Liebe zur Natur und ihren Pflanzen vergnügt ausleben. Immer neue Rezepturen beschreibt sie mit flotten Sprüchen, was gleich zu Beginn für Gelächter sorgt.
Darstellerin Anja Kleinhans gestaltet ihr Stück als vielschichtige Geschichtslektion mit Ausdruckskraft und humoristischem Hintersinn. Sie nimmt ihr Publikum mit auf Streifzüge durch die enorme Heilkraft der Pflanzen, lässt Hildegard mit flammenden Augen von der Brennnessel als Powerbank und Naturviagra schwärmen und weiß auch, wie man sich beste Kräuter für einen Joint mixt. Den zieht sie auf der Bühne mit sichtlichem Gusto durch.
Eine Frau behauptet sich in einer Männer-Welt. Verlässlicher Antrieb der Inszenierung, bei der Uli Hoch mit Assistentin Helga Ziegler Regie führt, sind die vielen erstaunlichen Facetten dieser Frau. Gegen Ende des 11. Jahrhunderts geboren, wuchs Hildegard in eine Welt hinein, die von mächtigen Männern beherrscht wurde. Intensiv zeigt eine Szene, wie leicht ungehemmte Macht in Krieg und Zerstörung mündet. Für unheimliche Wirkung sorgt dabei auch der Loop-Effekt. Ständig wiederholte Textsequenzen lässt er ineinander greifen und sich überlagern.
Solche Bühnenmomente offenbaren die zeitlosen dunklen Schatten der Geschichte. Überhaupt zeigt die Szenerie unter den alten, rauschenden Baumkronen an der Stadtmauer, dass eine Frau mit unserer Gegenwart noch viel zu tun haben kann, auch wenn sie vor neun Jahrhunderten lebte. Wenn Anja Kleinhans die selbstbewusste Kloster-Managerin und geschäftstüchtige Netzwerkerin verkörpert, wenn sie gegen frauenfeindliche Paulus-Autorität aufbegehrt und mal so nebenbei gendert, dann macht sie klar: „Ohne uns läuft der Laden nicht!“ Die Visionen der Hildegard von Bingen Expressive Kraft legt die Schauspielerin in die visionären Erscheinungen, bei denen Originaltexte zitiert werden, etwa aus Hildegards Hauptwerk „Scivias“ – „Wisse die Wege“. Mit Hingabe zeigt Anja Kleinhans die brennende Leidenschaft dieser Seherin und ihr totales Gottvertrauen. Dazu braucht es Mut, sind dem heutigen Zuschauer religiöse Erschütterungen doch eher fremd. Umso auflockernder wirkt der nachfolgende Auftritt einer bodenständigen Pfälzer Nonne: Sie gibt so manches über das „schweinische Wissen“ der guten Hildegard zum Besten und ruft im Publikum immer neues Lachen hervor.
Die wechselnde Szenerie begleitet Burkard Maria Weber auf seinem elektrischen Cello. Zur Vielzahl bebender, schwingender und pochender Klänge gehören scharfkantige, grelle Zerr-Effekte. Außerdem hallt eingespielte Sakralmusik der hochbegabten Komponistin Hildegard wie durch ein großes Kirchenschiff, interpretiert von Ute Kreidler. Optisch unterstreichen beleuchtete Flügelmotive (Bühnenbild Manuela Studer, Licht und Technik Marco Wörle und Stefan Duda) wie verglaste Kirchenfenster den Eindruck, in klösterlicher Umgebung zu sein.
Im ausdrucksstark angeleuchteten Schlussbild scheint Hildegard von Bingen selbst zur Vision zu werden. Sie beschwört die alles vereinende Grundenergie, die titelgebende Grünkraft, und sie preist einen gütigen, menschenfreundlichen Gott. Nicht eingrenzen will sie den Menschen, sondern ihm Wege aufzeigen. In unserer Zeit der Entfremdungen lassen solche Worte die Hoffnung wie Blütenstaub über der Bühne schweben.